7. November 2017
„Der böse Expressionismus – Trauma und Tabu“

Totentanz der Mary Wigman – Ernst Ludwig Kirchner
Am 11. November 2017 öffnet die Kunsthalle ihre Türen zur Ausstellung „Der böse Expressionismus – Trauma und Tabu“. Die Wechselausstellung wird auch in diesem Jahr von der Stiftung der Sparkasse Bielefeld gefördert. Sie ist bereits die zwanzigste große Ausstellung in der Kunsthalle, die durch die Sparkassenstiftung ermöglicht wird. Bis zum 11. März 2018 haben Besucherinnen und Besucher die Möglichkeit, den Werken wichtiger expressionistischer Künstler, wie Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde oder Erich Heckel zu begegnen.
„Expressionismus war eine Zeiterscheinung, keine Kunstmode“, erinnerte sich Oskar Kokoschka. Die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts waren bekanntlich eine Zeit größter Herausforderungen und existenzieller Verunsicherung, geprägt von Industrialisierung und proletarischem Massenelend, Landflucht, ausufernden Großstädten und Wohnungsnot. Die rückständige, an feudalen und militaristischen Idealen orientierte Gesellschaftsordnung des wilhelminischen Kaiserreiches war mit den rasanten Veränderungen heillos überfordert, der Kollaps kam mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914.
Der Expressionismus war unter solchen Vorzeichen die Kunstform, mit der sich die Rebellion im Felde der Kultur Bahn brach; nach 1919 gewann er unter den neuen politischen Vorzeichen noch einmal an Vehemenz. Die jungen Künstlerinnen und Künstler, selbst Bürgersöhne und -töchter zumeist, erlebten Bürgerlichkeit als Trauma und probten den Aufstand gegen rigide Normen und verlogene Konventionen.

Rebellion gegen das bequeme Weltbild
„Antipathie gegen alles, was von weitem nur so aussah wie bürgerliches Empfinden oder Gewohnheiten, und die drei Brückegründer waren gefüllt bis zum Bersten mit Abwehr …“, notierte Ernst Ludwig Kirchner in sein Tagebuch. „Wir wollen die Bürger nicht unterhalten, wir wollen ihnen ihr bequemes, ernst-erhabenes Weltbild tückisch demolieren“, verkündete Herwarth Waldens Sturm-Zeitschrift.
Die KünstlerInnen brachen Tabus, nahmen Drogen und beendeten Prüderie und Triebverzicht, um anstelle von Verdrängung und Neurose aus den Kräften des Trieblebens die Kraft für ihre Kunst zu ziehen. Sie lebten, frei nach Nietzsche und ermutigt von Sigmund Freud, die „Umwertung aller Werte“ auf der Suche nach einem selbstbestimmten Dasein in einer Gesellschaft ohne Klassenschranken, zu ihrer Zeit nur eine Utopie. Mit dem längst sprichwörtlichen Pathos überrollten die Expressionisten Spießertum, Biedermänner und Bürokraten auf der Suche nach dem „Neuen Menschen“.
Doch trotz Völkerschau-Inspirationen in den Zoos und den Völkerkunde-Museen der Kolonialzeit, trotz Gauguin und Südsee-Reisen war es durchaus nicht der archaische Mensch, den sie suchten: Der ersehnte „Neue Mensch“ der Moderne war der von Zwängen befreite, sein Ich und sein Verlangen auslebende, seine Bedürfnisse artikulierende Mensch in einer Gesellschaft, die den Einzelnen achtete und ihm Lebensperspektiven bot.
Die Brisanz der Bilder droht zu verschwinden
Einst skandalträchtige Außenseiter, sind die Expressionisten heute gesellschaftsfähig, ihre Bilder Millionen wert; als Zeugnisse pittoresker Bohème, farbenfroher Idyllen und Ansichten einer vermeintlich guten alten Zeit werden sie verharmlost und je nach Möglichkeit als dekorative, verlässliche Geldanlagen gesucht. Die Brisanz der Bilder droht im Wohlgefallen zu verschwinden. Weil die Impulse, die vom Expressionismus ausgingen und die Fragen, die er in schonungsloser Offenheit gestellt hat, bis heute relevant sind, wollen wir an die Virulenz und die Intentionen dieser „Zeiterscheinung“ erinnern: Internationalität, Individualität, gesellschaftliches Miteinander und Toleranz stehen auch ein Jahrhundert später, und gerade heute, immer noch auf der Agenda.